Liebe Viola,
„Mein Kind soll nicht leiden“ – ein Satz, den wir tief in unserem Herzen tragen. Unabhängig davon, ob wir Väter oder Mütter sind, unabhängig davon, ob wir scheinbar erfolgreich sind oder scheinbar versagen in unserer Erziehung. Und unabhängig davon, welche Rachefeldzüge durch die Familien und inneren Seelenlandschaften ziehen und wüste Überlagerungen gestalten …
Die berühmte Frage: ist das wahr? leitet jede Spiegelarbeit ein und ist gemein eindeutig. Nein, es ist nicht wahr.
Es kann nicht wahr sein, weil wir unseren Kindern mit dem Leben auch das Leiden geben. Ein wenig differenzierter ausgedrückt: Mit dem Leben in einem Körper geben wir unseren Kindern nicht nur die Erfahrung der Körperfreuden, sondern auch die der Verletzbarkeit, des Alterns und Sterbens. Immer wieder die der Trennung. Im Kleinen wie im Großen.
Im Falle der Bilderbuchbiografien sterben wir vor unseren Kindern, nachdem wir unsere Eltern beerdigt haben. Und schon das konfrontiert uns doch mit solchen Herausforderungen, dass unsere Gesellschaft das Thema Tod weitestgehend tabuisiert. Und darüber hinaus gibt es andere Zumutungen. So hat meine Urgroßmutter noch von ihren sechs Kindern vier an Krankheiten wie Diphtherie oder Magendarminfektionen verloren. Meine Großmutter verlor einen sechsjährigen Sohn an eine Herzkrankheit, eines in psychische Irritationen (möglicherweise durch die Soldaten-Erfahrungen) und den Mann in den Krieg.
Schauen wir uns um in der Gegenwart dieser Welt. Überall gibt es Kinderleid zu sehen. Mütterleid. Väterleid. Innen wie außen.
Damit zu hadern kann die Eintrittskarte werden für eine gute Entwicklung, wenn wir nicht im Hadern stecken bleiben. Es lenkt unseren Blick auf die Ebene, in der Verantwortung Sinn macht. Auf den eigenen Hoheitsbereich (meine Angelegenheiten, meine Farbrose) und auf die Ebene der Entwicklung. Die ist nämlich nicht horizontal (also weltlich verwickelt), sondern vertikal (transformierend).
Nun die Sache der Verantwortung. Wir sind verantwortlich für das Leiden unserer Kinder?
Auch das ist nicht wahr. Verantwortlich für das Leiden in dieser Welt ist der Entwurf dieser Welt, sei er aus Gott geboren, aus uns, aus einer kollektiven Schöpfungsidee oder wie auch immer wir es nennen wollen.
Für die Teilnahme an diesem Spiel ist das „Ich“, das ich jetzt bin, nicht verantwortlich. Es wurde nicht gefragt, so wie unsere Kinder auch nicht gefragt wurden, als sie geboren wurden.
Also bleibt nur die Verantwortung für das Hier und Jetzt in der eigenen Persönlichkeit. Es gibt keine andere Wahl.
Also, richtig verstanden ist wahr: ich bin verantwortlich für mein Leiden. Sprich: es gibt heilenden Umgang mit Schmerzen durch transformierende Einsichten, und zwar bei mir.
Ich bin verantwortlich dafür, was ich für eine Mutter bin. Ich bin nicht verantwortlich dafür, was mein Kind für ein Kind ist.
Meine Erfahrung ist, dass wir bei konsequenter Innenschau mit diesem Satz immer in dem Urschmerz des Menschen landen, was es heißt, überhaupt geboren zu sein. Und durch diesen Schmerz müssen wir alle hindurchgehen, um die Gnade der Geburt wieder zu entdecken, die uns Gott und die Liebe mitten im Leben leben lässt. Das muss und kann nur ein persönlicher Weg sein! Er steht nicht nur uns zu, sondern auch unseren Kindern.
Was sind wir für Mütter und Väter ohne den Satz "Mein Kind soll nicht leiden." ?
Vielleicht weise Eltern, die ihren Kindern die Einsicht in Welterfahrung, wie sie ist, nicht vorenthalten. Möglichst nicht missionarisch (das geht immer nach hinten los) aber durch das gelebte Bespiel - durch ehrliche Aussagen über Zuständigikeiten und eigene Grenzen.
Die Buddhisten sagen, Leben ist Leiden. Sie meinen damit die Anhaftung und die Gier, also die Identifikation mit Körper, Geschichten und Äußerlichkeiten. Menschsein bedeutet, das zu erfahren und zu überwinden. Dann ist Leben Liebe. Für uns und für unsere Kinder.
Mit der Geburt unserer Kinder geben wir ihnen die Möglichkeit, diesen Weg zu gehen. Gilbrans Gedanken sind Balsam – Dank Dir, Carmen, für diese Erinnerung!
Ihr lieben Mit-Mütter und Mit-Väter (Gruß an
...Ingrid ...Marena ...Carmen...)
lasst uns die Schuld am Leid unserer Kinder durch wirkliche Verantwortung ersetzen. So dienen wir ihnen und uns am wirkungsvollsten.
Lieben Gruß von Mutter Meike, deren jüngstes Kind vor drei Tagen volljährig geworden ist … ein wunderbar sichtbares Ereignis, wie Verantwortungen sich ent=wickeln!
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Meike Lalowski
[This message has been edited by Meike Lalowski (edited 28 May 2004).]