Gast
|
Silivia hockte alleine auf ihrem Hotelzimmer. Ihr war zum Weinen zumute. Es mußte am Jetlag liegen. Es war ein sehr langer, anstrengender Flug gewesen. Obwohl sie heimlich Stoßgebete nach oben gesandt hatte, der Flug möge nie enden. Im Landeanflug auf Rio, als der Zuckerhut und der Strand der Copacabana bereits zu sehen waren, hatte sie gehofft, der Flieger müßte Warteschleife um Warteschleife fliegen, bevor er Landeerlaubnis bekam.
Immer wieder sah sie Paul Rodriguez vor sich, wie er seinen Koffer entgegennahm, ihr ein letztes, irgendwie trauriges Lächeln, schenkte, eine letztes Winken, und er war im Strom der anderen Passagiere verschwunden, die alle aus dem Flughafen strebten. Sollte das das letzte gewesen sein, was sie von ihm gesehen hatte? Sie mußte sich zwicken: Doch, die letzten Stunden im Flugzeug waren real gewesen.
Sie hatte die Liebe gespürt, die er für sein Land empfang, als er davon erzählte. Tiefe Sorgenfalten durchzogen sein Gesicht, als er von der Abholzung des Regenwaldes am Amazonas sprach, von den Straßenkindern, die auf Bestellung der Reichen sogar ermordet wurden, von der Korruption und den sozialen Problemen, die in diesem Land herrschten. Seine Augen hatten gefunkelt, als er vom Karneval erzählte, von den Samba-Rhytmen. Oh ja, er liebte die Musik und den Tanz. Er kam ins Schwärmen von der Schönheit des Landes. Sie erfuhr auch, daß seine Frau früh an Krebs gestorben war. Eigentlich gerade zu der Zeit, als es am schönsten zwischen den beiden gewesen war. Die Zeit danach war hart gewesen, und er hatte sich in die Arbeit gestürzt. Zwei Kinder hatte er: Ana und Jamie, wie er ihr auf Nachfrage mitteilte. Während er von den beiden erzählte durchzog ein Schmerz sein Gesicht, den Silivia nicht hatte deuten können. Er hatte danach "zugemacht", so daß sie keine weiteren Fragen in diese Richtung stellte.
Was er ihr nicht mitteilen konnte, noch nicht, war, daß sein Sohn tot war. TOT! Es war einfach noch zu schmerhaft für Paul, darüber zu reden. Sie erfuhr, daß Paul's Ur-Ur-Urgroßvater sich eine schwarze Sklavin zur Geliebten genommen hatte und Paul sozusagen inzwischen ein reines "Mischprodukt" sei mit einem brasilianischen Vater und einer deutschen Mutter, wie er ihr mit einem Grinsen und Augenzwinkern erklärte. Das erklärte auch den wunderschönen Bronzeton seiner Haut, der ihr gleich aufgefallen war und sein perfektes Deutsch.
Warum hatte sie ihn nicht nach seiner Telefonnummer gefragt? Hatte sie ihm eigentlich gesagt, in welchem Hotel er sie antreffen könnte? Ihr brummte der Kopf.
Morgen ist ein neuer Tag, sagte sie sich.
Silivia legte sich auf ihr Bett und war gleich darauf eingeschlafen.
6 Monate zuvor:
Jamie war in einem billigen Hotel abgestiegen. Monatelang hatte er versucht, seinen Verfolgern zu entkommen. Er war müde, so verdammt müde. Nun, er würde ihnen zuvorkommen, bevor auch seine Familie in Gefahr geraten würde. Er hatte einen Fehler gemacht, einen großen, der nicht mehr rückgängig zu machen war. Sie wollten ihn nicht aussteigen lassen. Und er wußte wie die Mafia arbeitete, er hatte gesehen, wie mit vermeintlichen und tatsächlichen Verrätern umgegangen wurde. Es ging das Gerücht, das der "Boss" einem von ihnen bei lebendigem Leib mit einer Kettensäge die Gliedmaßen absägen ließ, um die Überreste später an seine Hunde zu verfüttern. Und Jamie war dicht genug dran am Geschehen gewesen, um zu wissen, daß es nicht nur ein Gerücht war. Er hatte versagt! Sein Vater durfte nie erfahren, was er getan hatte. Wie enttäuscht würde er sein. Dabei hatte alles so harmlos angefangen, und er war froh gewesen, so gutes Geld auf so einfachem Wege verdienen zu können.
Er sah aus dem Fenster, der Himmel war orangerot gefärbt. Es war der letzte Sonnenaufgang, den er erleben würde, und er war doch noch so jung. Aber es gab keine andere Lösung, er wußte, was er zu tun hatte. Er hielt sich die Waffe an den Kopf und drückte ab.
|