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Alt 13.01.2005, 16:14   #5
Florian
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Florian
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Liebe Viola,

mein neunzehnjähriger Sohn erzählte mir gestern von seinem Geschichtsunterricht in der Schule, in der der Tsunami das Thema war. Sein Lehrer berichtete von der kanadischen Stadt Vancouver, in der es täglich sechs Morde gab. Dann traf die Stadt ein schweres Erdbeben. Ein halbes Jahr lang sank die Mordrate in dieser Stadt auf Null. – Wenn es interessant zu sein scheint, kann ich mich um die Quelle dieser Information bemühen.


Du hast einige Fragen zu ein paar meiner Äusserungen gestellt, die ich ohne Begründung "einfach so" in meinen Beitrag platziert habe. Eine ausführliche Antwort würde Bände füllen, deshalb bitte ich dich um Verständnis, wenn ich nur ein paar Hinweise gebe.

1. Niemand stirbt ungefragt

Deine Frage hast du in drei Teilfragen gegliedert. Nein, ich meinte damit nicht, dass wir immer wieder aufgefordert sind, unser Tun zu überprüfen. Ja, auch die Ärmsten werden gefragt. Es ist ein Prinzip des Lebens, und für das Leben spielt es keine Rolle, ob wir reich oder arm sind. Die Ebene, "aus der heraus" ich das geschrieben habe?

"Wir" sind mehr als unser Ich von uns weiss. Nenne es Seele oder Unbewusstes oder wie du willst. Wir erfahren zu Zeiten, dass unser Dasein mehr ist als unser Ich und sein oft kleinliches Handeln bewirkt. Viele von uns – einschliesslich mir – haben erlebt, dass sie in einer Gefahrensituation eine Handlung begangen haben, die sie von ihrem Tod gerettet hat, OHNE dass sie mit ihrem Ich vorher Zeit hatten, zu überlegen, was sie nun zu tun hätten. Sie folgten einem "inneren Impuls". Fragen wir, was das ist – diese ominöse innere Impuls -, können wir einen Hinweis darauf bekommen, dass "wir" mehr sind als das, was wir von uns glauben. Dass wir eine Art intuitives Wissen haben, das selten ins bewusste Wissen kommt. Doch dieses Wissen behütet unsere menschliche Existenz.

Nimm dazu den Thread im Forum zur Frage nach "Gott". WIR sind göttlicher Geist. Wir sind ihn ganz, weil er sich in uns anschaut, und doch sind wir nur ein winziger Teil des göttlichen Geistes. – Für die hier gestellte Frage reicht es aus zu sehen, dass auf der geistigen Ebene jede Existenzform auf der Erde mit jeder anderen kommuniziert, - dass ein geistiges Wissen um den Gesamtzustand der Erde jedem von uns Menschen – auf der zellulären Ebene – eingeboren ist. Bei den Tieren, die kein Ich-Bewusstsein haben, beobachten wir oft ein intuitives Vorauswissen von Katastrophen; sie verhalten sich dann entsprechend, um sich zu schützen. Dieses "Wissen" steht auch uns Menschen – unserer Geistigkeit – zur Verfügung.

"Niemand stirbt ungefragt" heisst, dass wir Menschen auf der seelischen Ebene im Angesicht einer lebensbedrohenden Katastrophe immer entscheiden, ob wir bereit sind, zu sterben, oder nicht. Wenn wir nicht bereit sind zu sterben, werden wir es so fügen, dass wir überleben. – Ein dreizehnjähriges Mädchen wurde von der Flut aufs Meer hinaus gespült, sie klammerte sich an eine treibende Wohnungstüre, und sie war nach drei Tagen auf dem offenen Meer am Verdursten, als "zufällig" eine volle Trinkwasserflasche an ihr vorbei trieb, die ebenfalls ins Meer gespült wurde. Danach wurde sie von einem Fischerboot entdeckt und gerettet.

Wenn du bei Katastrophen nicht auf die Verstorbenen, sondern auf die Überlebenden achtest, wirst du immer mehr auf "Wundergeschichten" von Rettungen stossen, die dir das Bewusstsein für die hier geschilderten Gedanken öffnen können. Unsere derzeitige westliche Denkhaltung hat allerdings dafür keinen Raum. Wir müssen all diese Beobachtungen mit dem Wort "Zufall" abtun, weil es auf naturwissenschaftlicher Ebene keine Erklärungen dafür gibt. So arm ist unsere heutige Zeit.

Und um einem Missverständnis vorzubeugen, sei hinzugefügt, dass der Umstand, dass wir alle in unseren Tod einwilligen, KEINESFALLS ein Freibrief für andere Menschen ist, todbringende Gewalt auf andere auszuüben.

Den hier ausgeführten Gedanken des Nicht-ungefragt-Sterbens zu Ende zu denken ist für mich eine der grössten Zumutungen. Zu sehr drängt sich uns das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen auf. Kaum auszudenken, was wäre, wenn wir diesen Gedanken auf einen Mörder und sein Opfer beziehen ....


2. Das liebevolle Miteinander

Ja, liebe Viola, wir haben als Menschheit immer "Gut und Böse" gespielt. Und wir haben – je kultureller Verfasstheit – die Spielregeln je neu gesetzt. Es gab immer wieder Zeiten, die sahen, dass das sog. "Böse" (das es eigentlich nicht gibt) zum Dasein gehört wie die Nacht zum Tage und der Winter zum Sommer. Und dann gab und gibt es Zeiten, die glauben, man könne das Böse "vernichten", damit die Welt "nur" gut wäre. In diesen Zeiten wird meist übersehen, welch' destruktive Energien man aufwendet, um das Böse zu vernichten. Und man übersieht vollends, dass man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben möchte. In solcher ideologischer Verbohrtheit, in der jegliches intuitive Wissen über geistige Ausgleichsgesetze verloren gegangen ist, erzeugt eine Kultur eine mächtige aggressive geistige Atmosphäre von übergrossen Spannungen. Und die Geschichte zeigt, dass die "Mutter Erde" immer wieder Wege findet, diese Spannungen zu lösen –sei es durch einen entsetzlichen menschengemachten Krieg, sei es durch eine Naturkatastrophe. Schon die Bibel weiss von der friedensstiftenden und reinigenden Macht der (Sint-)Flut.

Aber dass das so ist, darf uns nicht in die Haltung des Fatalismus bringen, dass dann ja offensichtlich "eh alles egal" wäre. Weil das regierende Prinzip des Kosmos, die Liebe, in uns Menschen eingeboren ist (auch ein Mörder wollte eigentlich nur lieben und geliebt werden), haben wir immer den inneren Ruf, in unserem Lebenshorizont Liebe zu verwirklichen. Wir können uns frei entscheiden, ob wir diesen Ruf hören wollen oder nicht.

Die "nihilistische Übersättigung", von der ich sprach, zielt auf eine derzeitige Verfasstheit unserer westlichen Kultur, die sich in den heutigen USA am deutlichsten ausprägt. Indem wir uns vom (Christen-)Gott losgesagt haben und unsere Weltauffassung auf naturwissenschaftliche Denkweisen reduziert haben, ist uns das Gespür für die Heiligkeit unseres Daseins verloren gegangen. Deshalb können wir unser Leben nur noch als Über-leben begreifen. Oberstes Ziel des Lebens ist dann bloss noch das ewige Leben, die Negation des Sterben-Müssens. Deshalb tun viele Menschen nichts anderes, als zu versuchen, ihr Leben zu verlängern. Und die Wellness-, Freizeit- und Pharmaindustrie unterstützt diesen Trend sehr eigennützig. Doch das Gefühl der Sinnlosigkeit des Daseins lässt sich damit nicht tilgen, sondern nur übertönen. Der geschichtliche Prozess, der zu diesem Zustand führte, wird als "Nihilismus" bezeichnet.

Wenn sich nun aber dieses erschreckende Gefühl der Sinnlosigkeit meldet, sind die Menschen geneigt, SICH SELBST einen Sinn zu geben. Das tun sie, indem sie sich Ziele stecken, für die es sich zu kämpfen (!) lohnt. Ein solches Ziel kann sein, sog, Freiheit und Demokratie mit Gewalt über die Welt zu verbreiten. Hierzu kann man dann auch wiederum den alten Christengott instrumentalisieren. Deshalb betet Bush jeden Tag so, dass möglichst viele Fernsehkameras dabei sind.


3. Die Flut als Möglichkeit, aus dem Leben zu scheiden

Ja, liebe Viola, das ist mein Ernst. Und ich bitte dich, die Gedanken zum "Nicht-ungefragt-Sterben" hier mit dazuzudenken.

Wenn eine Seele auf dieser Welt keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten mehr sieht, wird sie eine Möglichkeit suchen, das Leben zu beenden. Bei uns hierzulande ist dies in der Regel durch eine unheilbare Krankheit möglich. Selbstmord ist in der japanischen Kultur ein angesehenes Mittel, bei uns durch das Christentum und sein Selbsttötungsverbot eher moralisch verfemt.

Eine Selbsttötung ist für die Angehörigen eine riesige Last – ich weiss, wovon ich spreche -, denn sie bleiben in einem Gefühl der Mitschuld zurück. Ein Unfall ist hier die bessere Möglichkeit, aus dem Leben zu scheiden (denk nur an eine Mutter, die Kinder zurücklässt) – der Schmerz ist genauso gross, aber es scheint für die Angehörigen keine "Schuld" zu geben, denn es war ja nur ein "Zufall". Deshalb entscheidet sich manche Seele eher dafür, auf kurviger Strasse durch plötzliches Glatteis gegen einen Baum zu rasen und da zu sterben als sich mutwillig vor die S-Bahn zu werfen.

Unser Problem ist, dass von den in einer Katastrophe Getöteten wohl niemand kurz zuvor, wenn wir ihn gefragt hätten, ob er in fünf Minuten sterben will, "Ja" gesagt hätte. Doch auch hier bleibt zu beachten, dass "wir" als Geist und Seele mehr sind als unser "Ich", das uns Rede und Antwort steht.

Deine Teilfrage,. aus welcher "Ebene" ich dies schreibe, ist indirekt beantwortet: ich schreibe dies aus meiner Erfahrung des Denkens und Beobachtens, die sich irgendwann einmal mit den uns angebotenen billigen Erklärungen von "Schicksal" und "Zufall" nicht mehr zufrieden geben wollte. Denn im Grunde erklären die beiden Worte NICHTS, sondern drücken sich vor einer Antwort. – Wir kämen weiter, wenn wir bedächten, WAS sich da uns im Schicksal "schickt" oder von wo aus was uns denn im Zufall "zu fällt". Aber die Gedanken hierzu wären wohl ein neuer Thread im Forum.

Ob ich wissen kann, dass die Ärmsten in ihrem Leben keine Chance mehr sahen? Nein, liebe Viola, wir reden hier von Dingen, bei denen unser Wissen an Grenzen stösst. Übrigens starben in der Flut auch ca. 600 wohlgenährte Deutsche mit Arbeitsplatz und Mittelklassewagen. Bedenke nochmals, dass auch die Ärmsten, hätten wir sie gefragt, wohl kaum gesagt hätten, sie wollten in fünf Minuten sterben. Um die dahinter liegenden geistigen Vorgänge zu sehen, müssen wir weit über unser beschränktes Ich mit seinen täglichen kleinlichen Sorgen hinausblicken. Aber ohne dieses Hinausblicken nehmen wir uns eine Chance, die Tiefen des Daseins zu erforschen. Denn angesichts der Fluttragödie bliebe uns nur noch ein versteinertes Erschrecken über die Unfassbarkeit solcher Geschehnisse. Oder wir mögen als Christen fragen: warum tut Gott so schreckliche Dinge? – Hier haben wir die Chance zur Antwort schon mit einer falschen Frage verpasst.

Ob ich Selbstmord begehen würde, wenn ich in ein armes Dasein hineingeboren wäre? Viola, das ist eine fiktive Frage. Dann wäre ich nicht ich Florian, sondern ein anderer. Und wie der handeln würde, weiss ich nicht. Ich kenne ihn nicht. Aber ein Japaner kann sehr wohl Selbstmord begehen, wenn er nach vierzig Jahren seinen Arbeitsplatz und damit sein "Gesicht" verloren hat.

Das Leben der Ärmsten ist keinesfalls "so unwürdig, dass es nur zu einem Selbstmord reicht". Arme Menschen leben oft in viel grösserer Würde als wir Reichen, die wir uns oft – ich denke grinsend an die deutschen Autofahrer – zu völlig unwürdigem Verhalten hinreissen lassen. Viola: Würde ist nichts, was mit arm und reich zu tun hätte. Aber Menschen können in die Situation geraten, wo sie – unbewusst - keine Möglichkeit mehr sehen, ihre Würde aufrechtzuerhalten. Dann mögen sie "entscheiden", aus dem Leben zu scheiden. – Wir können auch dies bei Tieren und Pflanzen ungefiltert beobachten: wenn du einem Tier die Lebensgrundlage so entziehst, dass es gemäss seinem Tiersein nicht mehr würdig leben kann, wird es sterben oder "eingehen".

Warum gibt es "dann noch" so viele Arme? Deine Frage gründet auf einer Voraussetzung, die ich nicht teile. Wie oben gesagt, hat Armut nichts mit Würde oder Würdelosigkeit zu tun. Doch dies führte in einen ganz anderen Fragehorizont: wieso inkarniert sich eine Seele als Mensch? Wieso gebären sich so viele Menschen in soziale Situationen hinein, die wir nur als "schrecklich" empfinden können? – Auch diese Frage wäre wohl ein eigener Thread.

Deine letzte Teilfrage: wo beginnt die Würde des Menschen?

Präziser gefasst lautet die Frage: ist Würde etwas, das andere Menschen einem Menschen zu- und absprechen können, oder ist Würde etwas, das im Menschen selbst verankert ist?

Wäre sie ersteres, wäre sie vom "zufälligen" Dafürhalten der andern und von deren Willkür abhängig. Das trifft den Begriff der Würde nicht. Insofern ist Würde immer nur etwas, das als Potential in uns Menschen verankert ist: ein Ruf an uns selbst, uns in unserer Würde zu halten. Vielleicht kann man diese "Würde" auch als ein "Bei-Sich-Sein" verstehen. Aber auch das wäre wohl mal einen gesonderten Thread wert. Es gibt Zeugnisse von KZ-Häftlingen, die mich zur Vermutung veranlassen, dass es ihnen gelang, auch in dieser schrecklichen Situation in ihrer Würde zu bleiben.

Nun haben wir aber seit der französischen Revolution einen anderen Begriff von Würde entwickelt, der tatsächlich versucht, die Würde dingfest zu machen. Wir begannen vor zweihundert Jahren, den Menschen als eine Persönlichkeit zu definieren, die ein staatlich verbrieftes RECHT auf Selbstentfaltung hat. Wir koppelten seine Würde an die Möglichkeiten seiner Selbstentfaltung. Und dieser Gedanke fand Eingang in das Grundgesetz der Bundesrepublik. Wenn wir in DIESEM Sinne von "unwürdigem" Dasein reden, meinen wir, dass die Gemeinschaft, die politische Herrschaft, die Polizei, der Geheimdienst, welche Organisationsform auch immer, einem Menschen die Möglichkeit zu dieser Selbstentfaltung vorenthält. Wir haben an diese Selbstentfaltung materielle "Werte" geknüpft. So empfinden wir es als unwürdig, wenn ein Bürger unseres Landes auf der Strasse leben muss. Deshalb haben wir uns vorgenommen, ihm seine "Würde" zurückzugeben, indem wir ihm aus unserem Steuersäckel Sozialhilfe bezahlen, damit er sich eine Wohnung leisten kann.

DIESER Begriff von "Würde" hängt also von unseren Wertsetzungen ab und ist damit kulturell bedingt und willkürlich. Meine Rede vom "Scheiden aus einem unwürdigen Dasein" bezog sich auf die innere, eingeborene Würde des Menschen. Und wir werden, wie gesagt, von aussen niemals mit Sicherheit ausmachen können, wann ein Mensch – vielleicht unbewusst – spürt, dass er nicht mehr in seiner Würde bleiben kann.

Nun hoffe ich, dass ich ein wenig deine Fragen klären konnte.

Sei ganz herzlich gegrüsst,


Florian

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