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Alt 12.01.2005, 01:35   #3
Florian
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Florian
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160.000 Tote durch den Tsunami. Zu gross die Zahl, um fassbar zu sein, oder doch nicht? Ein Viertel der Einwohnerzahl Stuttgarts.

Verräterische Medien-Sprache - Meike wies darauf hin - : mehr als zwei Tote beim Verkehrsunfall auf der A8, mehr als 66 Tote beim Flugzeugabsturz in Überlingen, mehr als 160.000 Tote bei der Flutwelle im Indischen Ozean. Uns interessiert das "mehr als ..." mehr als die Zahl selbst. Ich drehe es - mit Byron Katie - rum: weniger als 200.000 Tote. Welch Glück!

Ich rechne nach: täglich sterben "mehr als" 300.000 Menschen auf der Welt. Davon sterben, wie heute in den Nachrichten zu hören war, 30.000 Kinder an Kinderkrankheiten, die prinzipiell heilbar wären.

Die Flutwelle hat die Todesrate kurzfristig um 50% erhöht, dafür werden in den nächsten Jahren ein paar weniger Menschen auf der Welt sterben, da sie schon in der Flut gestorben sind.

Die internationalen Versicherungskonzerne haben errechnet, dass der wirtschaftliche Schaden durch die Lungenkrankheit SARS bedeutend grösser war als der Schaden durch die Flutwelle.

560 Millionen Euro haben die Deutschen gespendet, grösste Spendensammlung der Geschichte. Wir brauchen eben immer Superlative. Und kaufen uns von unserem schlechten Gewissen frei. HarzIV kann so schlimm nicht sein. So schlecht kann es uns auch nicht gehen. Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" hat die Annahme von Spenden eingestellt, weil das Geld nicht mehr sinnvoll untergebracht werden könne.

Meike sagt zurecht: schauen wir genauer hin.

Das EIGENTLICHE entgeht uns im Wirbel der sensationshaschenden Medien und der sich mit eigennützigen Hilfsangeboten überschlagenden Politik.

Das Eigentliche ist, dass wir alle sterblich sind und nicht wissen, wann unsere Stunde schlägt. Aber niemand stirbt ungefragt, auch wenn er oder sie sich des Gefragt-Werdens nicht bewusst sein mag.

Die Menschheit hat eine grosse Spannung erzeugt. Statt des liebevollen Miteinanders zu leben und zu fördern teilt man die Welt wieder in Gut und Böse, lenkt von nihilistischer Übersättigung ab, indem man - notfalls mit militärischen Mitteln - der Welt das Gute, die Demokratie, den Kapitalismus, aufoktroieren will.

Nun hat sich diese Spannung in der Erdkruste vor Sumatra gelöst. Die Flut hat Frieden gestiftet. Tamilische Rebellen und indische Soldaten helfen Hand in Hand den Flutopfern auf Sri Lanka. Ob die beiden Feinde, die gemeinsam die Leichen vom Strand weggeschafft haben, in einem halben Jahr wieder aufeinander schiessen wollen?

Wir verstehen noch nicht den Zusammenhang von - aus dem Blickwinkel der Natur vollkommen "normaler" - Naturereignisse, die für uns Menschen Tod bringen, und der jeweiligen geistigen Atmosphäre, die wir Menschen - alle zusammen - erzeugen.

Man sagt bedauernd, es hätte "mal wieder" die Ärmsten getroffen, die sich keine Hausversicherung gegen Naturgewalten leisten konnten. Man übersieht, dass die Flut gerade für die Ärmsten eine Möglichkeit war, aus einem unwürdigen Leben zu scheiden, ohne Selbstmord begehen zu müssen, in dem sie keine Chance mehr sahen.

Und diejenigen in den betroffenen Gebieten, die - ohne es vielleicht zu wissen - noch eine Chance sahen, überlebten, manchmal wie durch ein Wunder auf einer entwurzelten Palme tagelang im Meer treibend, oder "zufällig" einen Marktbesuch in einer Stadt im Hinterland machend, das die Flutwelle nicht traf.

Der Schmerz ist gross, zweifellos. Und wiederum geben wir keinen Raum für den Schmerz, wollen durch Unsummen von Spenden die Folgen des Tsunami möglichst schnell ungeschehen machen. Verwüstete Strandhotels sehen auch hässlich aus.


Sind wir nun überrascht?

Ja und nein. Nein, weil in unseren Köpfen das Ereignis durch einen Hollywood-Katastrophenfilm schon vorweggenommen wurde. Nein, weil wir uns nach Katastrophen sehnen. Weil jedes Mal, wenn uns eine Katastrophe trifft, wir einerseits mal wieder vor die Frage nach dem Sinn unseres Daseins und dessen Verletzlichkeit geschubst werden, andererseits aber im Helfen plötzlich unserem sinnentleerten Dasein wieder einen Sinn geben zu können glauben. Man sagt, Schröder habe die Wahl wegen der Elbe-Flut gewonnen.

Ja, weil wir uns doch verdutzt die Augen reiben, WENN die Katastrophe dann eintritt. Lehrreich diesmal, dass wir Deutschen nicht aussen vor sind, wenn sie tausende von Kilometern von Deutschland entfernt stattfindet. "Mehr als" 600 Deutsche liessen wohl ihr Leben in der Flut. Sie lassen mehr als 3.000 Angehörige und Freunde zurück, die nun ihren Schmerz und ihre Trauer bearbeiten. Und ihre Haltung zum Leben modifizieren werden. Und diese 3.000 Deutschen wirken wie ein Same in die 80.000.000 übrigen Deutschen hinein, der vielleicht mal Früchte trägt.

"Katastrophe" bedeutete ursprünglich recht undramatisch (im antiken Griechenland) eine "Umwendung" oder "Hinabwendung". Was wendet sich in der Flut? Was wird umgewendet?

Die Katastrophe tritt ein, wenn ein Höhepunkt erreicht ist. DASS ein Höhepunkt erreicht wurde, wird oftmals den Betrachtenden erst durch die Katastrophe deutlich. Die Wasserflut hat nicht nur eine Spendenflut ausgelöst, sondern auch eine emotionale Flut. Diese Flut beseitigte einen Höhepunkt emotionaler Spannungen. Meike wies darauf hin, dass sie uns das Gefühl "Wir sind EINE Menschheit" gab. Sie beseitige (wenn sicher nicht mit langanhaltender Wirkung) auch einmal mehr die Hybris von uns Menschen, wir könnten, wenn wir uns nur genügend anstrengten, eben doch Götter sein.

Und wie sieht unsere Mutter Erde das ganze Geschehen wohl? Sie hat eben einmal leicht gehüstelt .....


Florian
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