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Alt 26.01.2004, 12:45   #1
Meike Lalowski
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Meike Lalowski befindet sich auf einem aufstrebenden Ast
Daumen hoch

Blindsein trennt von den Dingen.
Taubsein trennt von den Menschen.
Helen Keller

Lieber Rüdiger,

den Tatort, aus dem Du diesen Lieblingssatz zitierst, habe ich natürlich auch gesehen (als echte Krimifrau): Ein Krimi aus der Welt der Gehörlosen.

Und wenn schon bei dem Gedanken an die schlicht Taubstummen meine Vorstellungskraft wahrscheinlich nur annäherungsweise ihre Welt erahnen lässt, so verlässt sie mich so gut wie ganz, wenn ich an Helen Keller denke.

Für die, die Helen Keller nicht kennen:

Helen bekam als zweijähriges Kind eine Gehirnhautentzündung, in deren Folge sie vollkommen erblindete und taub wurde. Die wenigen Worte, die sie bisher gelernt hatte, vergaß sie schnell.

Sie beendete ihre Leben als Frau mit Hochschulabschluß, als Buchautorin und Reisende in Vorträgen – immer engagiert für die Unterdrückten und Ausgegrenzten dieser Welt. Sie war nie gefällig, eher schonungslos und damit auch umstritten und oft angegriffen. Schonungslos ohne Schonung in vielerlei Hinsicht und dennoch aufgehoben in ihrer Kraft und ihrem Willen.

Der Weg dahin? Unglaubliche Kämpfe, viel Disziplin, Lebenshunger, Mut, Vertrauen in sich und vor allem auch ihre „Teacher“ Anne Sullivan, der sie ein ganzes Buch widmete. Ihr Wichtigstes.

Und damit kommen wir zu der anderen, notwendigen Lebenserfahrung. Ohne Anne Sullivan wäre Helen Kellers Weg nicht möglich gewesen. Anne: ausgegrenztes Kind durch soziale Umstände, Armenhauserfahrung, eigene aber vorübergehende Blindheit und s.o.: Kämpfe, Disziplin, Lebenshunger, Mut und Helen …

Als Anne zu Helen kam, war diese ein störrisches, wildes Kind, das die Familie gleichzeitig hilflos vor Mitleid machte und terrorisierte. Anne lehrte sie in Kürze das Fingeralphabet, die Blindenschrift, unsere Schreibschrift (durch besonderen erhabenen Papier-Druck), Anne lehrte sie den größten Schatz: die Sprache. Eine Sprache jenseits der Stimmbänder, denn wer von klein auf nicht hören kann, kann auch nicht sprechen.

Sprache: die Verbindung zu den anderen. Zu der Welt. Zu sich.

Das Bild, das ich bekomme: zwei Frauen, immer in Berührung. Ich suche meine innere Helen, den tauben, den blinden Teil, den zwangsläufig stummen - ich suche meine Übersetzerin, die mit jeweils einem Bein in den zwei Welten stehen muss, um eine Brücke sein zu können. Ich lerne: Wir Menschen brauchen eine Sprache (kaum zu glauben, aber Helen erzählt in Bildern!), denn durch sie leben wir Bewusstsein. Sprache ist das Mittel unserer Transzendenz. Aber Sprache braucht nicht Sprechsprache, wenn Augen und Ohren und Stimme gemeinsam ausfallen, gibt es andere Zuhörer und Erzähler in uns. Helen hörte mit den Füßen, sie sah mit den Händen, sie roch Farben und Stimmungen, sie streichelte sich in Persönliches. Sie sprach mit ihren Händen und ihrem Körper, von Anne übersetzt für die, die Helen so nicht verstehen konnten ….

Wenn ein Mensch uns vormacht, wie er taubblind hört und sieht, können wir es doch auch: unsere inneren Verweigerungen, zu sehen und zu hören, überwinden. Oder? Wenn ein Mensch es schafft, aus der absoluten Isolation in die Kommunikation zu gehen, können wir das auch – oder? Was wir brauchen? Den anderen, die Brücke, die Hand, die Berührung. In Kommunion eben. Und Vertrauen. Vor allem Vertrauen.

Ich danke Dir Rüdiger für diese Erinnerung an die Welt der Helen Keller, die mich schon als Kind zu Tränen rührte. Und unendlich ermutigte. Und beides immer noch tut.


Zum Schluss ein Zitat von Helen:
„In Indien habe ich einen Baum gesehen, den Banyanbaum, der meinem Leben ähnelt. Bei Dürre und anderer Wetterunbill schafft er sich einen Ausweg, indem er von seinen Gliedmaßen kleine Schösslinge ausschickt, die sich dann in den Boden senken, Wurzeln schlagen und Zweige, Blätter, Blüten und Früchte tragen wie der Mutterbaum.“


Literaturempfehlung

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Meike Lalowski


[This message has been edited by Meike Lalowski (edited 28 January 2004).]
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